Ein Tag ohne Hämophilie im Kopf

Kopf frei – keine Sorgen mehr!

Belgische Wissenschaftler formulieren ein neues Ziel, das die Hämophilieversorgung und -forschung in Zukunft leiten sollte

Trotz der zahlreichen und bahnbrechenden therapeutischen Fortschritte, die in den letzten Jahrzehnten und insbesondere in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Hämophilie erzielt wurden, siehe z.B. therapeutische Antikörper oder auch die – noch nicht zugelassene (!) – Gentherapie, ist die Hämophilie nach wie vor eine Krankheit, die durch die zahlreichen Komplikationen und die aufwändigen Behandlungen, die sie mit sich bringt, einen großen Einfluss auf das tägliche Leben der Patienten hat. Die Belastung durch die Krankheit ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch und lässt sich nur schwer durch Fragebögen und Scores bewerten.

In ihrem Artikel schlagen die Autorinnen* von der Université catholique de Louvain, Brüssel, Belgien vor, das Fehlen einer psychischen Belastung und ständiger Gedanken über die Krankheit und ihre Komplikationen bei Menschen mit Hämophilie zu untersuchen, um darüber ein neues Ziel zu erreichen, das die Hämophilieversorgung und -forschung in Zukunft leiten sollte.

Anstelle von ständigen Fragen, wie z.B.:

  • Sollte ich mich heute behandeln lassen? Wann war meine letzte Behandlung? Wann wird meine nächste Behandlung stattfinden?
  • Welche Aktivitäten werden heute wahrscheinlich Schmerzen verursachen? Wie kann ich die Schmerzen vermeiden oder kontrollieren?
  • Wie hoch ist das Blutungsrisiko für mich heute? Wird die Aktivität, die ich in Erwägung ziehe, gefährlich sein?
  • Was werde ich heute nicht tun können, was ich gerne tun würde?
  • Werde ich mich durch die Tatsache, dass ich Hämophilie habe, anders fühlen als Menschen, die nicht von Hämophilie betroffen sind?
  • Welche Fähigkeiten werde ich entwickeln und einsetzen, um heute mit der Krankheit zurechtzukommen?
  • Werde ich in der Lage sein, allein zurechtzukommen, oder werde ich Hilfe und Unterstützung brauchen?

…. sollte die medikamentöse Behandlung der Hämophilie, ein optimiertes Management und im Idealfall eine Heilung durch eine andere Realität ersetzt werden, die z.B. in den folgenden Aussagen beschrieben wird:

  • Ich muss mich nicht heute, morgen oder übermorgen behandeln. Ich muss nicht an meine letzte Behandlung denken.
  • Ich habe keine Schmerzen und muss keine Schmerzen fürchten.
  • Ich muss nicht befürchten, einem besonderen Blutungsrisiko ausgesetzt zu sein.
  • Ich kann tun, was ich will, ohne wirkliche Einschränkungen.
  • Ich muss mich nicht anders fühlen als Menschen, die nicht von Hämophilie betroffen sind.
  • Ich muss keine Fähigkeiten und Strategien finden, um mit der Krankheit umzugehen.
  • Ich brauche nicht mehr Hilfe oder Unterstützung als andere Menschen.
  • Ich muss nicht einmal über die oben genannten Fragen nachdenken und sie mir selbst stellen.

Bei dieser Hypothese verschwindet die Behandlung der Hämophilie mit ihren Schmerzen, Ängsten, Frustrationen, Bewältigungsstrategien, wahrgenommenen Unterschieden zu anderen Menschen ohne Hämophilie und dem häufigen Mangel an Unabhängigkeit. Und sie beschäftigt auch nicht mehr den Geist und die geistige Energie der Person. Ein Tag ohne Hämophilie im Kopf, ein Tag, an dem sie sich nicht als „Bluter“ im Gegensatz zu gesunden Menschen betrachten, ist sicherlich der wichtigste Wunsch dieser Menschen. Sie so weit wie möglich aus der biologischen, körperlichen und vor allem geistigen Umklammerung der Hämophilie zu befreien, ist das Ziel einer idealen Behandlung. Dies ist ein schwer zu erreichendes Ziel, aber im Idealfall sollte es die Betreuer und die künftige Forschung inspirieren und motivieren.

Nach eigener Erfahrung der Forscherinnen sind solche „hämophiliefreien Tage“ bei einigen ihrer Patienten, die mit Faktor-IX-Konzentraten mit langer Halbwertszeit (FIX) oder Emicizumab behandelt werden, inzwischen möglich. Einige dieser Patienten scheinen mehrere Tage im Monat leben zu können, ohne aktiv unter der Hämophilie zu leiden, sowohl physisch als auch psychisch.

Der Artikel ist frei zugänglich; leider nur auf Englisch:

Living with a “hemophilia-free mind” – The new ambition of hemophilia care?

*Evelien Krumb MD, Cedric Hermans MD, FCRP (Lon, Edin), PhD

https://doi.org/10.1002/rth2.12567