Eine Betrachtung des Marktforschungsunternehmens IQVIA
IQVIA ist ein führender, globaler Anbieter von zukunftsweisender Analytik, Technologielösungen und klinischer Auftragsforschung. IQVIA unterstützt Life Science Unternehmen, Verbände, Institutionen, Kostenträger und weitere Akteure im Gesundheitswesen darin, bessere Ergebnisse in der Gesundheitsversorgung zu erzielen.
Hämophilie (aus dem Griechischen von Häm = Blut und Philie = Neigung) ist eine der seltenen Erkrankungen (Orphan Diseases), bei der Patienten unter einer Störung der Blutgerinnung leiden. In fast allen Fällen erblich bedingt, kann die Krankheit in sehr seltenen Fällen auch spontan auftreten.
SCHWEREGRADE, KRANKHEITSFORMEN UND BEHANDLUNG VON HÄMOPHILIE
Anhand der Gerinnungsfaktoraktivität wird der Schweregrad der Erkrankung bestimmt. Unterscheiden lassen sich vier verschiedene Schweregrade von Hämophilie: je nach Aktivität des Faktors VIII oder IX im Blut unterscheidet man Subhämophilie, milde, mittelschwere und schwere Hämophilie (Abb. 1). Ein gesunder Mensch hat in der Regel 70-120 % an Gerinnungsfaktoraktivität, Hämophilie-Erkrankte demgegenüber weniger als 50 %.
Häufigste Formen, die rund 99 % aller Erkrankten betreffen, sind Hämophilie A (85 % der Erkrankten) und Hämophilie B (15 %). Während Hämophilie A auf einen Mangel an Gerinnungsfaktor VIII zurückzuführen ist, bestimmt der Mangel an Gerinnungsfaktor IX Hämophilie B. Weltweit gibt es ca. 400.000 Patienten, davon in Deutschland rund 10.000 Erkrankte; die Behandlungskosten pro Patient liegen im BRD-Durchschnitt bei etwa 300.000 Euro im Jahr. Neben Hämophilie A und B gibt es noch weitere Gerinnungserkrankungen, von denen die Angiohämophilie (von-Willebrand-Jürgens-Syndrom) und die erworbene Hämophilie am häufigsten auftreten.
Die Krankheit gilt bislang als unheilbar; der gegenwärtig verfolgte Therapieansatz liegt in einer Substitutionstherapie mit Faktorpräparaten (Gerinnungsfaktoren). Hämophilie-Patienten, die also bei Bedarf oder regelmäßig substituiert werden müssen, sollten an ein Hämophilie-Zentrum angebunden sein. Dies dient der Qualitätssicherung sowie Erforschung der Erkrankung und ermöglicht den Patienten die bestmögliche Betreuung durch Experten für die Erkrankung.

Die Leistungen der Hämophilie-Zentren in Deutschland unterscheiden sich je nach Klassifizierung in CCC (Comprehensive Care Center – Hämophiliezentrum mit umfassender Behandlungsmöglichkeit), HBE (Hämophiliezentrum zur Hämophiliebehandlung) und HB (Hämophiliebehandlung). Während ein CCC Zentrum zum Beispiel bis zu 40 schwer erkrankte Patienten behandeln kann, sind die Kapazitäten bei HBE Zentren und vor allem bei HB Zentren demgegenüber deutlich geringer.
Seit 1990 ermöglicht der medizinische Fortschritt immer mehr Patienten den Zugang zu Behandlungen mit Faktorpräparaten, die in natürliche und künstliche Präparate unterschieden werden.
Im natürlichen Bereich erfolgt die Herstellung von Plasmakonzentraten aus Spenderblut, indem benötigte Gerinnungsfaktoren aus Blut aufgereinigt werden. Damit werden möglicherweise im Spenderblut vorhandene Infektionserreger abgetötet und
so unschädlich gemacht. Die Problematik dieser natürlichen Präparate liegt darin, dass nicht vorhersehbar ist, ob mit diesem Produktionsverfahren auch noch nicht bekannte Erreger wirksam abgetötet werden können; die Sicherheit von Plasmakonzentraten aus Spenderblut ist daher immer wieder ein wichtiges Thema für die Betroffenen.
Demgegenüber kann der fehlende Gerinnungsfaktor im Bereich künstlicher Präparate seit etwa 20 Jahren auch gentechnologisch im Labor hergestellt werden. Dafür ist kein menschliches Blut erforderlich, sondern die Produktion geschieht mithilfe von im Labor gezüchteten Zellen tierischer Abstammung. Vorteil dieses Verfahrens: hergestellte Gerinnungsfaktoren können in reiner und gleichbleibender Form produziert werden. Über diesen Weg entstehen zwei Arten von rekombinanten Faktor-Präparaten: rekombinante Faktor-Präparate mit Eiweißstoffen (Albumin) zur Stabilisierung sowie rekombinante Faktor-Präparate, die ohne Eiweißstoffe (Albumin) stabilisiert werden. Bei der Stabilisierung des Endprodukts durch den Eiweißstoff Albumin ist eine Übertragung von Infektionserregern mit einem rekombinanten Präparat theoretisch möglich, allerdings ist diese bisher noch nicht beobachtet worden. Um den Sicherheitsstandard der Hämophilie-Therapie zu erhöhen, enthalten die neuesten Faktor-Präparate vor diesem Hintergrund kein Albumin mehr zur Stabilisierung.
Anmerkung JF: Die neueste Entwicklung in der Hämophilie-Behandung mit dem Antikörper Emicizumab (Hemlibra®) wurde hier nicht erwähnt. Es ist jedoch zu beachten, dass Hemlibra® von Anfang aus über die Apotheke vertrieben wurde.
GESETZLICHE APOTHEKENPFLICHT SEIT SEPTEMBER 2020
In der Vergangenheit hat §47 Arzneimittelgesetz (AMG) eine Ausnahmeregelung der Vertriebswege für die Präparate zur Behandlung von Hämophilie-Patienten bestimmt, die eine direkte Lieferung an Ärzte und Krankenhäuser durch die Hersteller erlaubte. Zum 1. September 2020 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, mit der für gentechnisch hergestellte Präparate mit Blutbestandteilen eine Apothekenpflicht eingeführt wurde (Abb. 2). Nur aus menschlichem Blut gewonnene Blutzubereitungen mit Ausnahme von Gerinnungsfaktorenzubereitungen dürfen demnach weiterhin direkt an Ärzte und Krankenhäuser geliefert werden, ohne dass eine Apotheke dazwischengeschaltet ist.
Bedingt durch diese gesetzlichen Änderungen verändern sich die Möglichkeiten, ein Monitoring der Patientenversorgung in diesem Indikationsgebiet durchzuführen. Während bis August 2020 die Versorgung von Hämophilie-Patienten in der Mehrzahl über ein Zentrum / Klinikum erfolgte und nur in diesem Sektor ein Monitoring möglich war, kann seit September 2020 nun auch die Versorgung im niedergelassenen Bereich entsprechend analysiert werden.
Diese Veränderungen haben sehr positive Auswirkungen auf das Monitoring der Umsatz- und Absatzentwicklung der Hämophilie-Produkte in den IQVIA-Marktberichten mit Blick auf Kassenärztliche Vereinigungen sowie die Sektoren Klinik und Apotheke. Das Volumen der Hämophilie-Produkte im Apothekenmarkt ist sprunghaft von August auf September 2020 angestiegen und seitdem kontinuierlich gewachsen,in Summe um fast 700 % angestiegen. Dies ist jedoch kein „klassisches“ Marktwachstum, sondern eine Entwicklung, die auf die verbesserten Erfassungsmöglichkeiten der Verbräuche von Hämophilie-Produkten durch die Änderung der Vertriebswege zurückzuführen ist.


Gerade im Bereich der Faktor VIII-Präparate (Marktsegment-Klassifikation auf ATC4-Level: B02D1) sind die größten Veränderungen zu verzeichnen. Die Zahl und Vielfalt der über niedergelassene Apotheken abgegebenen Produkte ist deutlich größer, und es wurden sogar erste Reimportprodukte im Markt eingeführt – vor der Gesetzesänderung gab es keine Reimporte. Insbesondere die Regionen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), in denen Hämophilie-Zentren angesiedelt sind, konnten ein starkes Wachstum verbuchen (Abb. 3). Die führenden fünf KV-Regionen mit den größten Umsätzen sind demnach Bayern, Nordrhein, Niedersachsen, BadenWürttemberg und Hessen – sie vereinten im Dezember 2020 64 % aller Umsätze im B02D1-Markt dieses Monats.
Die Marktzahlen zeigen, dass der Hämophilie-Markt aufgrund der nun geltenden Apothekenpflicht nicht nur vollständiger erfasst wird, sondern dass auch eine Verschiebung zwischen den Sektoren stattfindet (Abb. 4). So verschiebt sich das Umsatzvolumen im B02D1-Markt vom Krankenhaus-Markt (grün) zunehmend in den Retail-Bereich (blau). Bei der Gesamtmarktbetrachtung (Apotheke und Klinik) lässt sich die Marktveränderung – es handelt sich um kein echtes Wachstum, sondern mehr Transparenz – in den letzten drei Quartalen des Jahres 2020 gut verfolgen. Um ein möglichst transparentes und gesamtheitliches Bild des Marktes zu erhalten, sollte nicht nur zwischen den Sektoren Apotheke und Klinik unterschieden, sondern danach differenziert werden, wo die Patienten behandelt und aus welchen Apotheken sie mit Medikamenten versorgt werden. Dabei werden zwei Blickwinkel berücksichtigt und miteinander kombiniert:
- In welchem Bereich wurde das Rezept eingelöst – in der niedergelassenen / Offizin-Apotheke oder in der Krankenhausapotheke?
- Wo befand sich der Arzt, der die Verordnung des Medikaments veranlasst hat – im Krankenhaus (stationär oder ambulant) oder im niedergelassenen Bereich?
Das erfasste Gesamtvolumen des Verbrauchs der Faktor VIII-Präparate in Deutschland ist von 52 Mio. Euro im zweiten Quartal auf 151 Mio. Euro im vierten Quartal des Jahres 2020 angestiegen. Während im zweiten Quartal 2020 ca. 34 % der Abgaben von Faktor VIII-Produkten über eingelöste Rezepte aus niedergelassenen Apotheken stammen, sind es im vierten Quartal 2020 bereits 95 % der Abgaben (via Offizin-Apotheken). Hingegen sinkt der Anteil der Abgaben über die Krankenhausapotheke im selben Zeitraum von 66 % auf 5 %. Es bleibt in jedem Fall spannend, zu beobachten, ob und wie sich der Markt in den nächsten Monaten weiter verändern wird.
FAZIT UND AUSBLICK

Damit sind neue Möglichkeiten gegeben, die Versorgung der Hämophilie-Patienten in Deutschland zu monitoren. Vor diesem Hintergrund hat IQVIA sein Leistungsspektrum um neue Optionen erweitert. Mit den sogenannten IQVIA Sektorensplit-Analysen können insbesondere Spezialmärkte sektorenübergreifend durch die Kombination von Klinik- und Apothekenmarktdaten ganzheitlich analysiert werden. Die in diesem Beitrag dargestellte Sicht zur Umsatz- und Abgabenentwicklung von Hämophilie-Produkten nach unterschiedlichen Parametern vermittelt einen ersten Eindruck von den neuen Auswertungsmöglichkeiten.
© 2021, IQVIA Commercial GmbH & Co. OHG, IQVIA Flashlight 83 – Februar 2021